Skip to main content
FR DE
Kultur

„Nach dem Stück“

By 5 Juli 2021No Comments

– Lea Pischke, 10. Juni 2021

Über die „Kritische Reise durch die Festivals“ am CFB, Mai 2021

Worüber schreiben Theaterkritiker*innen?
Die Journalistin oder der Journalist besucht eine Vorstellung, geht dann nach Hause, setzt sich an den Computer und schreibt eine Rezension, damit am Folgetag entweder in der Zeitung oder auf den jeweiligen Onlinemedien eine Kritik eben jener Vorstellung zu lesen ist.
Doch hier richtet sich der Blick nicht auf die Bühne, sondern auf das Publikum selbst. Es geht darum, wie Zuschauer*innen ein Theaterstück erleben, also um eine Art Metareflektion über die Reflektion des Publikums.

Es waren vier Stunden. Vier lange Stunden in einem dunklen Publikumsraum, vor einer Kinoleinwand, auf der das Theaterstück „Reich des Todes“ von Rainald Goetz mit dem Ensemble des Deutschen Schauspielhauses Hamburg am Freitag, den 21. Mai 2021, in Direktübertragung zu sehen war, im Rahmen des Berliner Theaterfreffen.
Vier Stunden aufpeitschende Wortgewalt, vier Stunden wechselnde Bühnenbilder, vier Stunden lang Menschen mit Pappmaché-Köpfen, im Rollstuhl, Zigarette rauchend, schreiend, tanzend, mit Perücke, ohne Perücke, dann im Chor singend. Vier Stunden lang Bezug auf Folter und eine Politik, die diese begünstigt. Vier Stunden geballte Negativität, ohne Atemholen, ohne Rücksicht auf Verluste.
Apropos Verlust: Aufgrund kleiner Aussetzer im Datentransfer wurden manche Monologe slapstickhaft auf ein schnelles Sprechmoment zusammengeschrumpft, was der allgemeinen Gravitas des Stücks einen kleinen schelmischen Seitenhieb versetzte.

Anlässlich des Berliner Theatertreffens, des Performing Art Festivals Berlin und des Festival Perspectives in Saarbrücken hatte sich vom 20. bis zum 28. Mai 2021 eine fünfzehnköpfige Gruppe an Deutsch und Französisch sprechender Theaterliebhaber*innen im Centre Français de Berlin für eine Woche zusammengefunden, um gemeinsam im hauseigenen Kino Live-Übertragungen der Veranstaltungen beizuwohnen und diese im Anschluß in der Gruppe zu besprechen.
Angesichts der pandemiebedingten Umstände wurde das Format der „Kritischen Reise“ hybrid gehalten: Die fünfzehn Teilnehmer*innen waren einerseits physisch im CFB anwesend – und wurden täglich getestet – andererseits erfolgten sämtliche Vorstellungen der gemeinsam zu sehenden Stücke online. Ebenso wurden alle Veranstaltungen mit der Öffentlichkeit und den „Kritische Reise“-Partnern per Videokonferenz abgehalten.
Und um denjenigen, die vor der Teilnahme an der „Kritischen Reise“ in Quarantäne gehen mussten, die einsame Erfahrung zu versüßen, gab es sogar ein speziell für diesen Anlass konzipiertes Online-Programm.

Unter Leitung des Pariser Theaterregisseurs Mathieu Huot und des Berliner Schauspielers Thomas Kellner sprachen die Teilnehmer*innen über die gesehenen Stücke und übten sich dabei in der Anwendung der sogenannten „Kellner-Methode“.
Die „Kellner-Methode“ ist eine Art Handbuch der Stückrezeption und bezieht sich auf die Ich-Perspektive der Zuschauerwahrnehmung. Sie dient als Hilfe bei dem Ordnen der Gedanken und Gefühle nach einem erlebten Stück und teilt sich in vier Kategorien auf: „Vor dem Stück“, „Nach dem Stück“, „Nach der Diskussion“, „Länger danach“.
Jede Kategorie besteht aus mehreren Fragen, die auf die verschiedenen Wirkphasen einer Aufführung genauer eingehen und beim Austausch mit anderen als Vorlage dienen können.

Ein Stuhlkreis in einem hellen Seminarraum des CFB. Programmhefte mit Notizen auf dem Schoß. Die deutsch-französische Delegation bespricht einen Tag nach der Aufführung die Produktion „Reich des Todes“. Die Stimmung ist bedrückt, wenn nicht gar verärgert.

Doch bevor es in den rein diskursiven Teil der Stückerezeption geht, haben die Teilnehmer*innen nach jeder gemeinsam gesehenen Aufführung die Möglichkeit, eine Art kreativen Rückblick auf die Aufführung selbst zu präsentieren. Alleine, zu zweit oder in einer Gruppe zeigen sie ihren Mitstreiter*innen in einer zehn- bis fünfzehnminütigen Performance, wie die Vorstellung auf sie gewirkt hat. Es entsteht eine Art improvisiertes Meta-Theater zum Theater.

Bei „Reich des Todes“ haben sich zwei Teilnehmer*innen bereiterklärt, performativ ihre Meinung kundzutun: sie blättern durch das imaginäre Programmheft, schauen auf, schauen ins Programmheft, schauen auf, die Gesten sind dröge. Eine Frau liest den Spielplan des Hamburger Schauspielhauses von ihrem Handy ab. Der Name „Rainald Goetz“ wird mehrfach genannt. Es passiert nicht viel.

Die Meta-Performer*innen setzen sich wieder, die zweite Kategorie der „Kellner“-Methode, „Nach dem Stück“, wird in Angriff genommen.
„Was hast du gesehen? Was hast du dabei gefühlt?“ Eine Teilnehmerin beginnt und spricht von der Darstellung von Gewalt auf der Bühne. Thomas Kellner unterbricht sie. „Bitte verlier dich nicht in Verallgemeinerungen. Zuerst möchten wir wissen, was das Stück mit dir gemacht hat.“
Die Teilnehmerin setzt neu an, stockt etwas bei der Verwendung des Ich-Pronomens. Mit einem Mal fühlt sich der Austausch über das Erlebte wie eine sehr persönliche Angelegenheit an.

Aber genau das ist der springende Punkt. Die Delegation ergründet ihre eigene Ontologie des Zuschauer-Daseins. Sie will wissen, wie Theater-, Performance-, Tanzstücke auf sie wirken, daher ist das Beharren auf die individuelle Wahrnehmung, die individuellen Gefühle, Assoziationen und Gedanken so wichtig.
Doch das Sprechen über Erlebtes will geübt werden, sei es im Stuhlkreis von Theaterkenner*innen oder in der Selbsthilfegruppe. Beiden gemein ist die absolute Ehrlichkeit, die Basis für den Austausch sein muß.
Unter diesen Bedingungen nimmt es nicht wunder, daß manche Teilnehmer*innen lieber mit ihrer theaterwissenschaftlichen Expertise arbeiten möchten, als das innere Zahnwerk ihrer Empfindsamkeit preiszugeben.
An einem Stück teilzunehmen heißt noch lange nicht, auch als Zuschauer*in teilnahmsvoll zu sein.
So wird die „Kellner“-Methode zu einer Art kultureller Offenbarungspraxis, in der wir die Schichten der gelernten Rezeptionstechniken ablegen müssen, um deutlich und klar für andere verständlich zu sagen, was bei uns innerlich abgelaufen ist.

Die Kategorie „Nach dem Stück“ hat hierfür ein paar Fragen vorgesehen:

„Ein Gedanke oder ein Bild, das bleibt, welches ist es?“
„Was fühlen Sie?“
„Eine Lust, eine Frustration?“

Einige – paraphrasierte – Reaktionen auf „Reich des Todes“:

„Ich habe mich missbraucht gefühlt. Auf mich wurde mit brüllenden Stimmen eingehauen, irgendwann habe ich mich so mit Negativität angefüllt, daß keine Menschlichkeit mehr in mir war.“

„Der Mann im weißen T-Shirt auf dem Kasten hat mich berührt. Diese Folterszenen haben mich irgendwie erreicht.“

„Das Photo von dem toten Kleinkind am Strand . Das ist ein respektloser Umgang mit den Schicksalen anderer Menschen.“

„Die erste Stunde war schwierig, ab der vierten Stunde bin ich in den Text eingestiegen. Am Anfang habe ich die Gewalt nicht gesehen. Am Ende habe ich sie gefühlt.“

„Ich sehe viele alte weiße Männer, die das Publikum anbrüllen und sich dadurch im Schauspieler-Dasein bestätigt fühlen. Ich sehe einen einzigen schwarzen Mann, der im Hintergrund ist und kaum spricht. Ich finde das ekelhaft.“

„Ich sehe ein opulentes Bühnenbild mit ganz vielen Details, daß ich darüber das Thema des Stücks ganz vergessen habe.“

Nach der Bestandsaufnahme der jeweiligen Wahrnehmungen geht die Gruppe weiter und beginnt eine Diskussion, unter Zuhilfenahme weiterer Fragen der Kategorie „Nach dem Stück“.

„Sind Sie gedanklich gereist? Wenn ja, wohin?“

„Es gab viele Szenen, die traumatisieren können. In einem Kontext der Cancel Culture sind wir alle sensibler im Umgang mit schwierigen Themen geworden.“

„Die Zuschauenden werden bewusst ignoriert. Der Zynismus ist im Bühnenbild angelegt, wir befinden uns in der Didaktik der Gefühllosigkeit, also soll ich als Zuschauer*in nichts mehr empfinden.“

„Was soll die Überprojektion des Inhalts auf die Form? Ich stelle etwas brutales dar, weil es um Brutalität geht. Sehr simpel.“

Immer wieder wird die vermeintliche Intention des Regisseurs zum Thema gemacht. Was wollte er bezwecken und ist es ihm gelungen? Mathieu Huot interveniert: „Bitte sprecht für euch. Seid ihr traumatisiert worden, oder seid ihr es nicht?“
Kellner fügt hinzu: „Ihr als Publikum habt das Recht zu fühlen und zu denken, was ihr wollt, der Wille des Regisseurs ist zweitrangig. Ihr könnt und dürft euren eigenen Bezug zum Stück haben.“

„Gab es eine kollektive Erfahrung. Welche ist es?“

Die Stimmung in der Delegation scheint am Nullpunkt angekommen zu sein. Welche Erfahrung auch immer gemacht wurde, intendiert oder nicht, sie ist jedenfalls nicht dem positiven Teil des Reaktionsspektrums zuzuordnen. Der gemeinsame, kollektive Nenner der Zuschauenden liegt in den Gefühlen von Abwehr, Verärgerung über leichtfertigen Umgang mit Menschenschicksalen, Überreizung mit negativen Stimuli von Text und Bühnenbild bis hin zu emotionaler Abstumpfung und Desinteresse an der Ästhetik.

Huot: „Wenn ich ins Theater gehe, dann möchte ich etwas sehen, was ich sonst nicht sehe, oder sehen möchte. Ich möchte nicht, daß man mir genau gibt, was ich will.“

Und so bewegt sich die Diskussion in Richtung Befragung der eigenen somatischen Reaktanz und nimmt sich die In-Kaufnahme von schwer ertragbaren Gefühlszuständen zum Zwecke der Theaterrezeption vor.

Ist die am eigenen Körper erlebte emotionale Abstumpfung ein Sinnbild für die distanzierte, von der Realität völlig abgekoppelte Außenpolitik der USA? Ist der vierstündige Prozess der inneren Entmenschlichung, den ich an mir als Zuschauer*in feststelle, eine Art reduzierte Form dessen, was im Pentagon in den Nuller Jahren ablief?

Ist die Abwehrreaktion auf den Schwall an agitierten Menschen, die wortgewaltig ihre Verantwortungslosigkeit neben Monologen über entwürdigende Szenen im Abu-Ghraib-Gefängnis in Bagdad kundtun, eine passende Metapher zu sinnentleertem technokratischem Verhalten, oder ist diese muskulöse Darstellung der Protagonist*innen schlicht und ergreifend dem bourgeoisen Theaterinstrumentarium geschuldet?
Und diese Dauerüberflutung mit Bühnenbild, diese scheue Halbnacktheit in mehreren Szenen und das Falschblut, sind sie Mittel zum Zweck oder die eitle Pfauenschau eines gut dotierten Staatstheaters mit einem konservativen Publikum?

Die Diskussion nimmt an Fahrt auf. Es wird über Ästhetiken der Brutalität gesprochen, über die Banalisierung von Missbrauch, über die Verantwortung von Theater gegenüber der Gesellschaft, über Opulenz zu Ungunsten von adäquater Themenbehandlung.

Jemand wirft die Frage ein: „War denn überhaupt Publikum da?“

Die Tatsache, daß diese Frage in der Diskussion aufkommt, verrät den historischen Rahmen der „Kritischen Reise“ des CFB und der Plateforme. Wäre sie im Jahr 2019 gestellt worden, hätte sie nur gehobene Augenbrauen und verständnislose Gesichter geerntet. Aber jetzt, im Mai 2021, ist sie völlig berechtigt.

Die bundesweit geltenden Hygienerichtlinien während der Corona-Pandemie verbieten die physische Anwesenheit von Publikum bei Theatervorstellungen. Daher findet sich die deutsch-französische Delegation, unter strengen täglichen Selbst-Testvorlagen, auch im Kinoraum des CFB ein, und nicht in einem Theatersaal.
Haben also die Schauspieler*innen von „Reich des Todes“ vor leeren Plätzen gespielt, vier Stunden lang ins Nichts skandiert, geschrien, gesungen?

„Vielleicht haben sie ihren Mangel an Spieltätigkeit während der Lockdowns mit zu lauten Sprechpassagen überkompensiert. Vielleicht wollten sie mal wieder zeigen, was sie drauf haben. Vielleicht sind deswegen die Protagonist*innen so wenig auf die anderen Charaktere eingegangen.“

Die Diskussion interessiert sich nun für die Kameraführung der Live-Aufnahme. Was wurde gezeigt, wo fehlten die Nahaufnahmen? Die Schauspieler*innen spielten immer nach vorne, jedoch nie in ein Objektiv hinein.
Wäre das Zuschauererlebnis ein anderes gewesen, wenn sie oder er direkt vor der Bühne gesessen hätte? Was gewinnt, was verliert man durch eine Live-Übertragung im Internet?

Einigkeit macht sich breit. Kinotauglich war „Reich des Todes“ nicht.

Eine Teilnehmerin merkt gegen Ende der „Kritischen Reise“ an, daß es zum Verarbeiten eines Stücks Zeit braucht, Zeit, die weit über eine Nacht zwischen Vorstellung und Besprechungstag geht. Damit spricht sie die „Kellner“-Kategorien „Nach der Diskussion“ und „Länger danach“ an, die aufgrund der Gedrängtheit des Programms leider wenig Rücksicht erfahren haben. Mehrere Teilnehmer*innen stimmen ihr zu. „Schon ein Spaziergang alleine durch den Park würde mir helfen.“

Wie spricht man über ein Stück? Und wann spricht man über es?
Welche Sprache würde mir nützen, um mich bei meinem Gesprächspartner verständlich zu machen?

Interessanterweise hilft hier der Umstand, daß sich die Reisegesellschaft der „Kritischen Reise“ aus verschiedenen Muttersprachler*innen zusammensetzt: jede Wortmeldung wird aus dem Französischen ins Deutsche bzw. aus dem Deutschen ins Französische direkt übersetzt, entweder von den Sprechern selbst, wenn sie zweisprachig sind, oder aber von den zwei anwesenden Übersetzerinnen.
Bei der Übertragung von einer in die andere Sprache wird bisweilen gefiltert, geschärft, nochmals erörtert, um das eigene Erleben besser darzustellen. Unklarheiten können beseitigt werden.
Das Prozedere mag zwar die Diskussion in ihrer Dynamik etwas bremsen und in ihrer Länge dehnen, hilft aber, die „Kellner“-Methode so zu praktizieren, daß sie den Anwesenden regelrecht in Fleisch und Blut übergeht.

Nach anderthalb Stunden Stückgespräch, Sitzen, Reden, Einwerfen, Übersetzen macht sich Erschöpfung breit. Eine Teilnehmerin reckt sich. Die beiden „Reiseleiter“ Huot und Kellner beenden die Diskussion. Die Teilnehmerin schüttelt sich, als ob sie die Negativität aus dem Leib treiben wollte.
So passioniert die Stückbesprechung von „Reich des Todes“ auch war, jetzt rauchen die Köpfe, und die Glieder schmerzen vom langen Sitzen. Ein Spaziergang durch den Park wäre jetzt eine feine Sache, aber! Die nächste Online-Performance beginnt gleich.

X
X