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Kultur

„Wir treffen uns“ – das Publikum und die Veranstalterinnen erzählen

By 5 Juli 2021No Comments

Es ist Donnerstag, der 27. Mai 2021. Wir befinden uns im Kinoraum des Centre Français de Berlin. Die fünfzehnköpfige Delegation an deutsch- und französischsprechenden Teilnehmer*innen an der „Kritischen Reise durch die Festivals“ bereiten sich auf den Höhepunkt der Reise vor: Das Publikcumstreffen. Unter der Leitung von Theaterregisseur Mathieu Huot und dem Schauspieler Thomas Kellner wurde ein Konzept entwickelt, um den Rahmen der Zoom-Veranstaltung für alle Dazugeschalteten so anregend wie möglich zu gestalten und zu Austausch und Diskussion über Schauspiel zu animieren.

Ehrengäste waren ebenso zugegen: Donald Trump saß in der dritten Reihe, hinter ihm Vladimir Putin, und ganz vorne, in der ersten Reihe, mit elegantem Schal um den Hals, die Bundeskanzlerin Angela Merkel, sehr angespannt und vom Bildschirmgeschehen extrem angetan.
Der französische Präsident Emmanuel Macron war etwas verspätet, ließ es aber an Formalitäten der Begrüßung nicht fehlen und schüttelte bei Ankunft Merkels Hand in großer Geste.
Der Generalsekretär der Partei der „Arbeit Koreas“ Kim Jong-un auf einem der oberen Ränge schien am Theatergeschehen nicht sonderlich interessiert zu sein. Er schien mit der Anwendung seines eckigen Charmes bei einer Sitznachbarin vollauf beschäftigt.
Irgendwas war passiert, denn mit einem Mal begann die gesamte Gesellschaft zu lachen. Ihre Schultern hoben und senkten sich…und stupsten dabei die Pappmasken aus dem Laden für Karnevalsartikel auf ihren Gesichtern an.

Auf dem Zoom-Bildschirm der Delegation sah man die aufsteigenden roten Plüschsitzreihen des Kinosaals, in denen die illustren Gäste in großer Geste ihre Beteiligung am Theatergeschehen mimten.

Nach der kleinen Performance widmete sich das Publikcumstreffen den „weniger dotierten“ Mitgliedern der Gesellschaft.
Mehrere Gesichter in Kachelansicht der Zoom-Konferenz. Manche sind beruflich mit Schauspiel verbunden, andere sind Bekannte der deutsch-französischen Delegation und Besucher*innen von Theaterveranstaltungen.

Camille von der deutsch-französischen Delegation fragt in die Runde: „Was war euer schönstes Theatererlebnis?“
Jemand aus der Delegation beginnt zu erzählen: Mit einem Laster wurde das Publikum durch eine Stadt im Ruhrgebiet gefahren. Der Laster blieb manchmal stehen, hob die Plane, so daß die auf der Ladefläche sitzenden Zuschauer*innen einen Blick auf die Außenwelt werfen konnten. Diese Außenwelt wurde zum Theater. Der Rahmen der Bühne war das Planengestell des Lasters. Er saß auch auf dem Laster und stellte mit Verwunderung fest, wie mit diesem einfachen Mittel sein Blick, seine Wahrnehmung geändert worden war.
Eine Frau berichtet über ein Stück in Mühlhausen, in dem das Publikum von einem Schauspieler durch die Straßen geführt wurde. Zwischendurch machten sie Station, um dem Schauspieler bei Szenen mit anderen Schauspieler*innen, direkt auf der Straße gespielt, zuzuschauen.
Ein dritter erzählt von einem Tanzstück bei dem Berliner Festival „Tanz im August“, das ihm bis ins Mark gedrungen ist, so, wie er es nie in einem Theaterstück erlebt hätte. Eine Frau erinnert sich an die erste Theatervorstellung ihres Lebens, „Peter Pan“, als Kind. Die schiere Freude, den Figuren aus dem Buch „in echt“ zu begegnen, ihnen Fragen stellen zu können, sie anzufassen!

Es gibt mehrere Formen der Interaktion im Theater: die Interaktion zwischen den Schauspieler*innen zum Beispiel, oder die Interaktion zwischen den Schauspieler*innen und den Zuschauer*innen, und auch die Interaktion zwischen den Zuschauer*innen untereinander.
Letztere ist die am wenigsten betrachtete, obwohl sie zeitlich am längsten von allen währt: sie kann vor einem Theaterstück, während eines Theaterstücks und auch nach einem Theaterstück stattfinden.

Die Corona-Pandemie hat den Prozess der Vereinzelung in der Gesellschaft vorangetrieben. Kulturveranstaltungen waren monatelang eingestellt worden, es gab den damit verbundenen sozialen Austausch unter den Menschen nicht. Kultur konnte zwar nach wie vor über digitale Kanäle genossen werden, aber der Aspekt des „Darüber-Redens“, mit der Begleitung zu einer Veranstaltung beispielsweise, fand nicht statt. Der Kulturgenuß war auch vereinzelt worden.

Doch das Erlebte wird oft umso reicher, umso tiefgreifender, wenn es in einer Gruppe rezipiert wird, wenn eine Vielzahl an Perspektiven und subjektiven Wahrnehmungen zusammenkommt und untereinander korrespondiert. Erst dann werden wir unser Erlebtes in Frage stellen, über unsere eigene Wahrnehmung, über unsere Gedankengänge sinnieren und unsere individuelle Sichtweise um weitere Sichtweisen erweitern.

Die Diskussion geht weiter. Wir hören von „7 Pleasures“ der Choreographin Mette Ingvartsen, von einer menschlichen Welle, die durch die Performer*innen auf das Publikum übergreift, von Karl’s kühner Gassenschau und „Fabrikk“, bei dem der Schokoladengeruch das ganze Stück hindurch in der Luft hängt und der „Drooling Lecture“ von Siegmar Zacharias, die eine Zuschauerin mit dauerndem Brechreiz kämpfen ließ.

Der O-Ton ist deutlich: die Kombination von intellektueller und haptischer Einbindung der Zuschauer*innen in das theatrale Geschehen scheint das „goldene Rezept“ einer gelungenen Veranstaltung zu sein.

Aber was bedeutet das für diejenigen, die Theaterstücke buchen, für die Kurator*innen und Theaterdirektor*innen? Und wie kann man eine Einbindung des Publikums erreichen, wenn es aufgrund einer Pandemie zu Hause bleiben muß?

Einen Tag vorher: Mittwoch, 26. Mai 2021.

Ein Konferenzraum im Obergeschoss des Centre Français de Berlin.
Wir sprechen per Zoom-Konferenz über „Twin Speaks“ des schweizer-deutschen Ensembles Vorschlag:hammer, mit den Programmleiterinnen des Festival PERSPECTIVES, in dessen Rahmen das Stück aufgeführt worden ist. Aufgeführt…ist vielleicht nicht der richtige Ausdruck, denn die Besonderheit von „Twin Speaks“ liegt darin, daß es nur über die Instantnachrichten-Anwendung Telegram stattfindet. Die Zuschauer*innen erhielten nach Kauf einer Eintrittskarte eine TelephonnummerTelefonnummer, die sie dann bei Telegram eingaben, um in die Chat-Gruppe aufgenommen zu werden. Ab 20 Uhr wohnte das Publikum einer Abfolge von Videonachrichten, Emojis und Dialogen zwischen den Protagonist*innen bei. Nach jedem Akt wurde eine Umfrage an alle geschickt, die man ausfüllen konnte. Das Stück handelte von einem ungewöhnlichen Todesfall in der Stadt Birsfelden in der Nähe von Basel und hatte hierzu Amateurschauspieler*innen der Stadt engagiert. Angelehnt an die US-amerikanische Kultfernsehserie „Twin Peaks“ waren Elemente des Übernatürlichen, des Nicht-Verständlichen zu finden, kombiniert mit der für die Serie bekannten Ästhetik der verstörenden Bewegungslosigkeit der Schauspieler*innen.

Nora Wagner, die Zuständige für Vermittlung und Audio-Spielstätten-Touren des Performing Arts Festivals Berlin, ist bei der Stückbesprechung von Twin Speaks ebenso anwesend, physisch, im Stuhlkreis mit den Teilnehmer*innen der „kritischen Reise“.
Sie erklärt, daß digitales Theater nicht erst mit der Pandemie aufgekommen sei, sondern es schon vorher gegeben habe. Bei dem digitalen Theater handele es sich um eine neue Ästhetik, die vor allen Dingen in den jüngeren Generationen, also in Schulen Anklang findet. Sie würden diese Form der Kultur eher als normal finden.
Bei all den Vorwürfen der Unzulänglichkeit des digitalen Theaters versus des Präsenztheaters mit seinen vielen körperanregenden Stimuli und Kommunikationsebenen, gibt sie zu bedenken, daß man über das digitale Theater ein anderes und größeres Publikum erreicht, und es auf ganz andere Weise einbindet. Darüberhinaus machen die Jahreszeiten bei dem Besuch von analogem im Vergleich zum digitalen Theater viel aus. Im Winter sind die digitalen Formate beliebter.

Es scheint so zu sein, daß das künstlerische Konzept sich seinen Ausdruck sucht. In manchen Fällen ist die digitale Form besser geeignet, um bestimmte Inhalte zu transportieren, in anderen ist das Theater mit Anwesenheit des Publikums unerlässlich. Aber wie wird dann die Definition von „Theater“ verhandelt? Kann man bei digitalem Theater noch von „Theater“ im klassischen Sinne – ein Versammlungsort, Bretter, auf denen was aufgeführt wird mit Leuten, die zugucken – sprechen, oder sollte eine neue Kategorie der kulturellen Praxis mit neuem Namen hierfür erfunden werden?

Zurück zu der Rolle der Zuschauer*innen und ihrer Interaktion untereinander.

Bei dem Stück Twin Speaks war die Chatfunktion während der Akte für alle Zuschauer*innen ausgeschaltet. Sie wohnten den Chatverläufen der Charaktere des Stücks lediglich als stille Beobachter*innen bei. Sie folgten den Korrespondenzen zwischen der Ermittlerin und dem Kriminalkommissar und beobachteten, wie die beiden Charaktere zusehends mehr und mehr in sinnlose Dialoge abdrifteten, ihren Frustrationen bei der Arbeit freien Lauf ließen, und ihre jeweiligen Eigenheiten in der Wortwahl und verschiedenen Emojis ausdrückten.
Zwischen den Akten jedoch wurde die Chat-Funktion für alle wieder freigeschaltet. Für die Zeit einer mehrminütigen Interimspause war der Spekulation über „Wer war es?“ Tür und Tor geöffnet. Die Zuschauer*innen tauschten sich aus, manche frotzelten, manche überlegten an möglichen Tatverläufen. Dann wurde die Chatfunktion wieder abgeschaltet, und weiter ging es mit dem spionageähnlichen Mitlesen der tippenden Schauspielerinnen und ihren Audio- und Videonachrichten.

In einer Welt, in der das Tragen eines Smartphones dieselbe Notwendigkeit wie der Besitz eines Wohnungsschlüssels erreicht hat, scheint es nur natürlich zu sein, daß diese alltägliche Selbstverständlichkeit des menschlichen Miteinanders Eingang in die Welt des Theaters, dem Ort der repräsentativen Mensch-zu-Mensch-Verbindung schlechthin, findet.

Doch klar ist auch, daß die Kommunikationsebenen im Digitalen völlig anders sind, genauso vielschichtig und anspruchsvoll wie ein Gespräch von Angesicht zu Angesicht, aber beruhend auf völlig anderen Konventionen, mit einem völlig anderen Bezug zu Realität.

Im Gespräch mit den Programmleiterinnen des Festival PERSPECTIVES ist der innere Vorwurf an die Gesellschaft, ihnen die Digitalität als den letzten Schrei auch für das Theater unterzuschieben, zu hören. Die Teilnehmer*innen der „kritischen Reise durch die Festivals“ kennen die Unzulänglichkeiten des digitalen Theaters zu Genüge. Aber wie ist es um seine besonderen Vorzüge bestellt?
Eine Programmleiterin des Festival PERSPECTIVES fragt in die Runde, wieviele der Anwesenden denn während der Pandemie ein digitales Theaterstück gesehen haben, das wirklich für das Format konzipiert worden ist. Ein paar erzählen, aber viele Wortmeldungen sind es nicht.

Die digitale Theaterpraxis ist neu und kann auf keine Geschichte des Zuschauens zurückblicken. Die Schablone der bereits existierenden Protokolle in der Rezeption von Stücken will nicht so recht passen, und so ist das von physischer Präsenz geprägte Publikum in einem Neuland seiner eigenen kulturellen Selbstfindung etwas verloren. Dies scheint nicht nur für das Publikum zu gelten.
Nora Wagner vom Performing Arts Festival Berlin weiß zu berichten, daß sich seit Öffnung der Spielstätten ab Mitte Mai 2021 die Presse nur für die fünfzehn Live-Auftritte des Festivals interessiert, aber nichts mehr von dem digitalen Theater im Programm wissen will.

Eine Teilnehmerin der „kritischen Reise“ erinnert sich, wie sie Twin Speaks auf ihrem Handy auf dem Bett liegend angeschaut hat. Während die Nachrichten auf ihrem Bildschirm vorüberzogen, wurde es draußen dunkel, sie schaute aus dem offenen Fenster und begann langsam, sich zu gruseln.
Ein sehr direkter, sehr haptischer Effekt für ein digitales Theaterstück. Die Anwesenheit von weiteren Zuschauer*innen hätte diesen Effekt gestört, denn zu vierzig Personen lässt es sich schwer schaudern.

Die Krux der Einsamkeit des Zuschauerdaseins im digitalen Theaterzeitalter wird uns noch etwas länger begleiten. Ob es sich bei den beiden Schauspielformen „digital“ und „analog“ wie zwischen Kino und Theater Anfang des letzten Jahrhunderts verhalten wird oder ob neue Arten der Koexistenz gefunden werden, wird sich in Zukunft zeigen. Das Bedürfnis nach kollektiver, körperlicher Erfahrung ist da und nicht verhandelbar, aber die Modalitäten dieser kollektiven, körperlichen Erfahrung sind genauso kreativ, vielfältig und im Fluss begriffen wie die Inhalte der Theaterstücke selbst.

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