Virus ex Machina
Wie ein Konglomerat an Molekülen es schafft, die Hauptrolle auf allen Bühnen zu spielen.
– Lea Pischke
Die Luft ist von Pieptönen erfüllt. Die Eintrittskarten werden am Eingang des Theaters gescannt, um den direkten Handkontakt zu vermeiden. Aufgeregt und glücklich, an Vorstellungen in persona teilnehmen zu können, stehen die Theaterbesucher*innen Schlange. Koordination des Personenverkehrs zwecks Verringerung des Infektionsrisikos. Manche nutzen die Zeit, um mit anderen über das zuletzt gesehene Stück zu diskutieren, während sie auf das Öffnen der Theaterpforten warten. Es lässt sich leider nicht verhindern, aber einige Worte verlieren sich im Gespräch, denn die OP-Masken haben die ärgerliche Eigenheit, weniger tragende Stimmen zu versperren.
Unter den Theaterbesucher*innen befinden sich fünfzehn Personen aus Deutschland, der Schweiz, Belgien und Frankreich, die sich in Avignon zusammengefunden haben, um gemeinsam das Festival zu erleben. Von der Plattform für deutsch-französische Kunst (Lyon) dem Centre Français de Berlin (CFB) organisiert und von dem Deutsch-Französischen Jugendwerk (Paris, Saarbrücken, Berlin) unterstützt und, sprudelt dieser einwöchige Austausch namens „Kritische Reise durch die Festivals“ nur so vor Stücken im IN und OFF, vor Debatten, Treffen mit Regisseur*innen und der Reflexion rund um alles, was sich auf der Bühne abspielt.
Hauptaugenmerk: der Blick des Publikums.
Jede*r in der Gruppe ist mit einem „Zuschauer*innen-Heft“ ausgestattet, das mit Fragen rund um die Erwartungen vor, dem Erleben während und der Resonanz nach dem Stück beim Formulieren des eigenen Erlebens dienlich sein soll. Sie sehen sich täglich mindestens zwei Aufführungen an,um mithilfe der Notizen aus dem Heft am darauffolgenden Tag gemeinsam über die Stücke zu sprechen.
Moderiert wird die „Kritische Reise durch die Festivals“ von Mathieu Huot, Regisseur aus Paris und Thomas Kellner, Schauspieler aus Berlin, und lebt von der Vielfalt seiner Teilnehmer*innen:dieses Jahr sind es ein Informatiker, eine Dramaturgin, eine Bühnentänzerin, ein Journalist, eine Studentin, eine künstlerische Leiterin, eine Hochschuldozentin und eine Schauspielerin.
Der Ritus sieht vor, daß die Diskussionen immer mit einer „Rückblende“ des zu besprechenden Theaterstückes beginnen. In einer mehrminütigen Präsentation inszenieren zwei bis drei Teilnehmer*innen die Passagen im Stück, die bei ihnen am meisten Eindruck hinterlassen haben bzw. die Gedanken und Gefühle, die der Theaterbesuch bei ihnen hervorgerufen hat, und vermitteln so den anderen eine dargestellte Version ihres eigenen Zuschauer*innenerlebens: Vor Marmelade triefende Hände, die sich dauernd zu greifen versuchen, um den Aspekt
„festhalten-loslassen“ in dem Stück „Morphium“ von Michail Bulgakow (Regie: Mariana Lézin, im „11“ – Theater) wiederzugeben; ein Körper, der gefährlich auf drei Stühle drapiert Katzenlaute von sich gibt und so die Beziehung zwischen Publikum und Schauspieler bei „Frigide“ von Malkhior (Regie: Camille Pawlotsky und Stéphane Aubry, im Artéphile – Theater) illustriert oder heftig flatternde Abendzettel und zwei Zuschauer*innen, die durch das Aufeinandertürmen von Stühlen ihr Desinteresse für den „Kirschgarten“ nach Anton Tschechow (in einer Inszenierung von Tiago Rodrigues, aufgeführt in der Cour d’Honneur) zum Ausdruck bringen.
Siebenhundert Kilometer von Avignon entfernt weht jedoch ein ganz anderer Wind: aufgrundeines deutlichen Anstiegs der Infektionen beschloß die französische Regierung in Paris neue Einschränkungen, die am Mittwoch, den 21. Juli 2021 in Kraft treten sollten: der sogenannte „Hygienepass“ zur Bestätigung eines Negativtests oder einer vollständigen Impfung wird für den Besuch von Theaterstücken mit mehr als fünfzig Zuschauer*innen verpflichtend. Und dies mitten im Festival. Ohne es beabsichtigt zu haben, wird so die „Kritische Reise durch die Festivals“ eine Art Barometer für das Theater in der Pandemie. Im vergangenen Mai hatte der deutsche Teil des Austauschs anlässlich des Festivals PERSPECTIVES (Saarbrücken), dem Theatertreffen und dem Performing Arts Festival in Berlin stattgefunden.
Sieben Tage lang bewohnte eine zwölfköpfige Delegation aus deutsch- und französischsprachigen Theaterliebhaber*innen das CFB in freiwillig gewähltem „kulturellen Lockdown“, um gemeinsam jeden Tag Stücke per Liveübertragung auf der Kinoleinwand des Centre anzuschauen und sie anschließend zu besprechen. Punktgenau zum Beginn des Austauschs kündigte der Berliner Senat für den 19. Mai 2021 die Öffnung des Außenbereiches seiner Kulturstätten an. Die in monatelanger Vorarbeit sorgsam geplante Veranstaltung am CFB wurde mit einem Mal zu einem vom Impfgeschehen eingeholten Phänomen.
Doch während draußen die Theater langsam ihre Tore wieder öffneten und die Gastronomie die Stühle auf die Straße stellte, praktizierte diese internationale Zuschauergruppe einen bemerkenswerten Akt der Belastbarkeit.
Sie hatten sich in die Klausur zurückgezogen, um sich intensiv der Roller der Zuschauer*innen zu widmen. Täglich wurden sie von dem hierzu eigens ausgebildeten Team des CFB getestet, um gemeinsam an den Live-Übertragungen teilzunehmen ohne sich dabei einem Infektionsrisiko auszusetzen
Der 19. Mai 2021 markierte daher einen wichtigen Moment für das von der Pandemie arggebeutelte deutsche Theater: immer mit einem Blick auf die Infektionszahlen war der Wiederöffnungsprozess der Spielstätten langsam in die Wege geleitet worden.
Neun Wochen später, in Frankreich, nimmt die kurze Blütephase dann ihr vorzeitiges Ende, und wiedermals strangulieren harte Einschränkungen die darstellenden Künste.
Dieses politische Ping-Pong, das der Theaterbetrieb zu beiden Seiten des Rheins sowie in vielen anderen Ländern erleidet, verdeutlicht, wie hart die Auswirkungen von Covid auf den Sektor sind, der in völliger Abhängigkeit zur Unvorhersehbarkeit der Situation sowie der zumeist ungerechten Handhabung der Regierungen versucht, seine Arbeit zu bewerkstelligen.
Autofabriken mit einer begrenzten Anzahl an Arbeiter*innen? Verpflichtende Tests für Angestellte aller deutscher Firmen? Was für eine überspannte Idee!
Es ist nicht so sehr der Name Isabelle Huppert, der auf allen Plakaten prangt, vielmehr ist es das Konglomerat an RNA-haltigen Molekülen Covid-19, das im Rampenlicht steht, in Frankreich sowie in Deutschland, und das noch einige Jahre mehr.
Mit dem „Zuschauer*innen-Heft“ in der Hand schlendert die Gruppe der „Kritischen Reise“ durch die Straßen Avignons und macht sich auf dem Weg von einem Theater zum nächsten nochschnell Notizen. Es bleibt noch die große Rückblende, die der Aufführung, der Superaufführung, die von dem Gesamtkunstwerk unserer Zeit: „Virus ex machina“, inszeniert von dem neuen Ensemble Sars-Cov-2. Das Stück spielt jeden Tag, ist umsonst und für jedes Publikum geeignet. Gehen Sie hin!
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